Zusammenfassung:
Die Haftungsquote zwischen Fahrradfahrer und PKW kann zumindest bei beiderseitigen Verkehrsverstößen 50% betragen. Das entschied das OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe, Urteil vom 29.03.2016 – 9 U 103/14). Die Annahme, der Fahrradfahrer als schwächerer Verkehrsteilnehmer, werde in jedem Fall bei Bestimmung der Haftungsquoten besonders geschützt, geht damit fehl. Auch andere, für den Fahrradfahrer nachteiligere Haftungsquoten sind vorstellbar.
Der Sachverhalt:
Der Kläger war der Eigentümer des am Unfall beteiligten PkW. Die Tochter des Klägers fuhr den Wagen. Sie überquerte, aus einer Hofausfahrt kommend, sowohl Geh- als auch Fahrradweg. Der Gehweg hatte eine Breite von 3,30 Meter, der Fahrradweg eine Breite von 1,70 Meter. Geh- und Fahrradweg verliefen an der Unfallstelle entlang der Hauptstraße. Auf diese wollte die Tochter des Klägers rechts abbiegen. Der Beklagte Radfahrer befuhr den Radweg. Der Radweg war für den Beklagten jedoch nicht für die von ihm eingeschlagene Fahrtrichtung freigegeben, sondern nur für die Gegenrichtung. Für seine Fahrtrichtung hätte er den Radweg auf der gegenüberliegenden Straßenseite benutzen können. Während des Einbiegevorgangs der Tochter des Klägers kam es zur Kollision.
Der Kläger vertrat die Auffassung, der Beklagte sei für den Unfall allein verantwortlich. Zum Unfall wäre es nicht gekommen, wenn er vorschriftsmäßig den Radweg auf der anderen Straßenseite benutzt hätte. Seine Tochter habe sich langsam und vorsichtig in den Bereich von Geh- und Fußweg vorgetastet. Sie sei dabei zweimal angehalten. Der Beklagte sei von ihr nicht wahrzunehmen gewesen.
Der Beklagte vertrat die Auffassung, die Klägerin habe sich keineswegs langsam in den Bereich von Geh- und Radweg hineingetastet. Er selbst habe keine Möglichkeit gehabt, auf das Fahrmanöver der Tochter des Klägers zu reagieren.
Die Entscheidung des Gerichts:
Das Gericht entschied im Ergebnis, dass der Beklagte die Hälfte des dem Kläger entstandenen Schadens zu ersetzen habe. Außerdem stünden dem Kläger vorgerichtliche Anwaltskosten zu.
Zur Begründung führte das Gericht aus, der Anspruch des Klägers beruhe auf § 823 Abs. 1 BGB sowie aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. den §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 4 Satz 4 StVO. Der Beklagte habe den Unfall nämlich durch einen fahrlässigen Verstoß gegen Straßenverkehrsvorschriften verursacht.
Der Beklagte habe den Radweg zum einen entgegen § 2 Abs. 4 Satz 4 StVO benutzt. Diese Vorschrift diene dem Schutz anderer Verkehrsteilnehmer. Hätte der Beklagte den für ihn vorgesehenen Radweg auf der anderen Straßenseite benutzt, wäre es nicht zur Kollision gekommen.
Außerdem falle dem Beklagten zum anderen ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO zur Last. Bei genügender Aufmerksamkeit sei der Unfall durch rechtzeitige Reaktion vermeidbar gewesen.
Für die Haftung des Beklagten könnten nur nachgewiesene Verstöße gegen Straßenverkehrsvorschriften zugrunde gelegt werden. Im Rahmen der Prüfung des § 823 Abs. 1, 2 BGB gelte für den Beklagten bei Unklarheiten des Geschehensablaufs von allen möglichen nur die günstigste Variante. Unter Zugrundelegung dieses Grundsatzes kam das Gericht in Bezug auf den Beklagten Fahrradfahrer zu dem Ergebnis, ihm sei mangelnde Aufmerksamkeit und damit ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vorzuwerfen. Bei entsprechender Aufmerksamkeit wäre es dem Beklagten möglich gewesen, durch rechtzeitiges Bremsen, eine Kollision zu vermeiden.
Eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge im Rahmen der Prüfung eines Mitverschuldens gemäß § 254 Abs. 1 BGB führe zu einer Haftungsquote von 50 %.
Auf Seiten des Klägers seien dabei nicht nur die Verkehrsverstöße seiner Tochter als Fahrerin des PKWs zu beachten, sondern daneben auch die sogenannte Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs. Auch für den Kläger gelte, dass ihm nur solche Verursachungsbeiträge zur Last gelegt werden können, die auch nachgewiesen sind. Auch für ihn gelte, dass unter allen möglichen Varianten des Geschehensablaufs nur die für ihn günstigste Variante anzunehmen sei.
Wer aus einem Grundstück auf die Straße fahren will, habe sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; § 10 Satz 1 StVO. Dabei sei es unerheblich, ob der Beklagte den Radweg in der falschen Richtung befuhr. Ob daneben auch ein Anscheinsbeweis angenommen werden konnte, war nicht von Belang. Die Tochter des Klägers hatte nach den Feststellungen des Sachverständigen schuldhaft einen Verkehrsverstoß begangen. Ein anderer Verkehrsteilnehmer – der beklagte Fahrradfahrer – wurde nämlich gefährdet, als sie aus dem Grundstück auf die Straße fahren wollte.
Das Gericht bezog noch Stellung dazu, dass die Haftungsquoten immer nach Beurteilung des jeweiligen Einzelfalles festzustellen wären. Es sei daher auch eine andere Verteilung der Haftungsquoten grundsätzlich möglich.
Anmerkungen zum Urteil:
Dieses Urteil lässt sehr gut erkennen, wie die Gerichte bei der Feststellung, wie die Haftungsquoten zu verteilen sind, vorgehen. Besonders das Prinzip der Meistbegünstigung bei unklaren Sachverhalten und mehreren Varianten des Geschehensablaufs gelingt dem Gericht. In dem zu entscheidenden Fall war von diesem Prinzip sogar sowohl auf Kläger- als auch auf Beklagtenseite Gebrauch zu machen.
Etwas erstaunlich an diesem Urteil empfinde ich, dass der Betriebsgefahr des PKW kein höheres Gewicht beigemessen wurde, zumal auf Beklagtenseite ein Fahrradfahrer und nicht ein weiteres Kraftfahrzeug am Unfall beteiligt war. Die Tochter des Klägers beging einen Verkehrsverstoß. Hier hätte meiner Ansicht nach, die Betriebsgefahr des PKW hinzugerechnet werden müssen. Denn auf beiden Seiten, sowohl auf der des Klägers als auch auf der des Beklagten, fanden Verkehrsverstöße statt. Nur auf der Seite des Klägers aber tritt zusätzlich die Betriebsgefahr des PKW hinzu. Eine Haftungsquote von beispielsweise 60 zu 40 zu Lasten des Klägers hätte diesem Umstand Rechnung getragen. Andererseits ist eine Teilung der Haftungsquote in Fällen der vorliegenden Art nicht untypisch.
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